„Das Wienerlied ist ein Organismus.“

Harmonikaspielerin Marie-Theres Stickler spricht über das Schrammel.Klang.Festival, ihre Beziehung zum Waldviertel und warum das Wienerlied heute anders klingt.

Die meisten modernen Musiker:innen beginnen ihre Karriere auf einer Gitarre oder am Piano – nicht so die im Schneebergland geborene und aufgewachsene Marie-Theres Stickler: Sie spielt diatonische Harmonika und chromatische Wiener Knopfharmonika – und zählt heute zu den wichtigsten Musikerinnen der österreichischen Harmonika-Szene. 

Frau Stickler, wie kommt es, dass eine junge Frau zum Akkordeon greift?  

Marie-Theres Stickler: Anfang der 1990er-Jahre erlebte das Instrument eine Renaissance. Bands wie Attwenger oder Hubert von Goisern haben die Harmonika wieder populär gemacht und da hat sich das kleine Mädchen von damals eingebildet, das will sie auch einmal können. 

Und kann sie es heute? 

Gute Frage.  

Der Erfolg gibt Ihnen nicht recht? 

Was bedeutet denn Erfolg? 

Dann formuliere ich die Frage neu: Wie ist es, als Frau in einer männerdominierten Szene wie der österreichischen Volksmusik aufzuspielen? 

Als Kind war ich mir dessen nicht bewusst, ich habe einfach drauf los gespielt. Im Alter von fünf Jahren hat mir meine Mutter meine erste Harmonika geschenkt, das hat auf Anhieb funktioniert und wir sind gemeinsam zu Veranstaltungen gefahren. Überall wurden wir mit offen Armen empfangen. Es war nie so, dass jemand zu mir gesagt hätte: „Du spielst Harmonika? Du bist doch ein Mädchen, lerne lieber Querflöte.“ Selbst im Wirtshaus habe ich sofort Applaus erhalten. 

Sind Sie im Wirtshaus auch erstmals mit dem Wienerlied in Kontakt gekommen? 

Das Wienerlied findet sich eher auf Bühnen oder beim Heurigen als Vortragsmusik direkt am Tisch. Mit dieser Musikrichtung bin ich erst später, so im Alter von 20 Jahren, in Berührung gekommen. Meine musikalische Muttersprache ist die traditionelle alpine Musik, die ich als Kind aufgesaugt und verinnerlicht habe, deshalb kann ich sie heute auch in jeder Zelle meines Körpers spüren. Der Wiener Pianist Franz Eibner hat einmal gesagt: Das Wirtshaus ist die Hochschule der Volksmusik. Das Musizieren dort ist völlig zwanglos. Ich musste nicht üben, aber durfte spielen, wann immer ich es wollte.  

Das Schrammel.Klang Publikum pilgert alljährlich wieder in die nördlichste Stadt Österreichs.
Das Schrammel.Klang Publikum pilgert alljährlich wieder in die nördlichste Stadt Österreichs.

Dennoch haben Sie später eine musikalische Ausbildung am Mozarteum Salzburg absolviert und sind heute als Musikpädagogin tätig. Findet Ihr Unterricht im Wirtshaus statt? 

Nicht ausschließlich, aber zu einem guten Musikunterricht gehört Aufführungspraxis vom ersten Lehrjahr an. Deswegen müssen meine Musikschüler:innen neben dem regulären Unterricht so früh wie möglich raus in „die freie Wildbahn“ – in unserem Fall ins Wirtshaus. 

Wer also eine erfolgreiche Karriere in der Volksmusik anstrebt, die/der sollte im Wirtshaus spielen.  

Wichtig sind Neugierde und Offenheit, dann wird eines zum nächsten führen. Man darf sich trauen und ausprobieren. Als ich nach meinem Studium nach Wien gekommen bin, habe ich bei unzähligen Projekten zugesagt und gespielt: von kleinen Gigs bei Indie-Bands über Theater- und Bühnenmusik in der Josefstadt bis hin zu Performance-Konzerten in Nachtclubs. Für meine musikalische Entwicklung waren diese unterschiedlichen Einflüsse überaus wichtig. 

Wie vielseitig das Wienerlied sein kann, beweist ja auch das Schrammel.Klang.Festival in Litschau immer wieder aufs Neue. Welchen Stellenwert hat das Festival für Sie als Musikerin? 

Das Schrammel.Klang.Festival ist ein Fixpunkt in meinem jährlichen Tourkalender und mittlerweile ein Stück Heimat geworden. Es ist ein Festival mit Wohlfühlcharakter, das man unbedingt gesehen haben sollte. Nicht nur seiner wundervollen Lage am Herrensee wegen, sondern auch aufgrund des genialen Konzepts von Intendant Zeno Stanek. Das Festival lässt den Besucher:innen jegliche Freiheiten: Man kann Workshops und Lesungen besuchen, an Theaterwanderungen teilnehmen, von einer Bühne zur nächsten schlendern, sich an allen Locations verköstigen lassen und noch dazu eine Fülle von Konzerten besuchen. 

Bei all den Konzerten, die Sie bereits am Schrammel.Klang.Festival gespielt haben, ist Ihnen da eines besonders in Erinnerung geblieben? 

Als 2017 der großartige Karl Hodina verstorben ist, gab es eine Matinee und ich durfte gemeinsam mit anderen Künstler:innen mitspielen. Das war ein wunderschönes, aber auch sehr bewegendes Erlebnis. Ich habe Karl Hodina überaus geschätzt, als Mensch sowie als Künstler. Er hat das Wienerlied von den 1970er-Jahren bis zu seinem Tode 2017 hinreichend geprägt und war ein begabter Maler. Er wollte sich mit seiner Kunst immer unsterblich machen, ich glaube, das ist ihm gelungen. 

Viele Menschen fürchten ja, dass das Wienerlied einmal aussterben wird. 

Diese Angst war schon immer vorhanden, aber das halte ich für unmöglich, gerade erlebt es erneut eine Renaissance. 

Weil Melancholie und Raunzen wieder modern sind? 

Das Wienerlied war immer in und out zugleich sein. Es hat sich im Laufe der Jahrhunderte natürlich verändert, doch die Sprache, die charakteristische Harmonik oder der Rhythmus – ein Element davon bleibt immer als Bindeglied erkennbar. Das Wienerlied ist wie ein Organismus, der sich stets neu erfindet. Selbst wenn manche Traditionalist:innen meinen wollen, das aktuelle Klangbild habe mit dem klassischen Wienerlied nichts mehr gemein, sage ich, das ist gut so. Es braucht von Zeit zu Zeit einen Stilbruch, sonst wird alles zu eng.  

Das neue Wienerlied darf also auch anders klingen. 

Mich reizen verschiedene Klangwelten, Stile und die unterschiedlichen Wienerlied-Epochen. Deswegen „brauche“ ich viele Ensembles: Mit Rudi Koschelu singe ich traditionelle Wienerlieder der letzten 200 Jahre, aber vorwiegend die alten Sachen; mit den Tanzgeigern spiele ich lebendige Traditionsmusik und mit ALMA kreieren wir zeitgenössische Musik. Wenn es meine Zeit und meine Kinder erlauben, spiele ich auch liebend gerne mit weiteren Bands, die das Leben bereichern. Ich wäre nicht glücklich, wenn ich nur eine Sache davon machen würde. 

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