Reichenau – ein magischer Ort
Merkliste aufrufen merkenEin Interview mit Maria Happel, der künstlerischen Leitung der Festspiele Reichenau.
In den Wiener Alpen verknüpfen sich die Bergkulisse und Spuren des Fin de Siècle zu einem Gesamterlebnis. Maria Happel kennt den Zauber der Region besonders gut. Die Burgschauspielerin und Leiterin des Max-Reinhardt-Seminars ist schon lange mit der Gegend verbunden: Vor mehr als 20 Jahren stand sie zum ersten Mal bei den Festspielen Reichenau auf der Bühne, nun hat sie deren Intendanz übernommen. Ein Gespräch über klare Luft, erlebnisreiche Sommer, Wildheit und Entschleunigung.
Rund um Reichenau ist viel Kulturgeschichte gespeichert. Wie identitätsstiftend ist sie für die Region und wie verstärkt wiederum die Natur die Kultur, die hier entsteht?
Das ist ein großes Thema, weil das eine das andere bedingt. Allein die Landschaft und die Wildheit der Region hat die „wilden“ Künstler:innen schon immer angezogen und inspiriert. Ob in der Musik, Literatur oder Malerei: Das ist ein Ort, an dem sich viele kreative Menschen auf eine Art und Weise erkannt haben oder in ihren schöpferischen Prozessen zur Ruhe gekommen sind.
Hat die Region also ein Potential, das andere Orte nicht haben? Schöpfen Sie für die Festspiele daraus, indem Sie eine Brücke zwischen Gestern und Heute bauen wollen?
Ich glaube, dass Tradition der Innovation vorausgehen muss. Ja, das Potential war immer da, das hat sich bei den Festspielen über die Jahre bewährt. Toll ist, wie sich jeden Sommer eine Art Theatergemeinschaft bildet, Künstler:innen von rundherum kommen – von den großen Theatern, der freien Szene oder dem Film, ganz durchmischt, wie auch das Publikum. Das will ich weiterführen, und jetzt passiert auch eine Verbindung zwischen Jung und Alt, weil die Schauspieler:innen der Zukunft vom Max-Reinhardt-Seminar mit den Erfahrenen spielen. Ich bin sicher, dass es für sie ein großer Spaß und auch eine Ernsthaftigkeit sein wird, wenn man sich im Sommer hier trifft und ein Erlebnis hat, das in Erinnerung bleibt.
Ist dabei Zeit, abseits der Bühne die Gegend zu entdecken?
Natürlich! Wie herrlich ist es, abends Theater zu spielen und tagsüber in der Sommerhitze in die Schwarza zu tauchen. Das ist wie ein großer Ausflug. Man kommt zu den Vorstellungen, aber davor und danach genießt man die Zeit in der Natur, geht wandern, fahrradfahren, schwimmen. Eine eigene Anekdote: Eine Kollegin hatte einen Unfall und konnte nicht auftreten. Da haben sie mich aus dem Schwimmbad geholt und eine halbe Stunde später habe ich mit Buch in der Hand und nassem Badeanzug unter einem Jahrhundertwendekostüm statt ihr gespielt.
„Alle Künste tragen bei zur größten aller Künste, der Lebenskunst“, sagte Bertold Brecht. Zur Lebenskunst gehört in den Wiener Alpen die Muße in der Sommerfrische. Was fasziniert Sie an ihr, was bedeutet sie heute?
Wenn Sie die Einfahrt des Zuges in der Beschreibung von Stefan Zweig lesen, dann wissen Sie genau, wo das ist. Wenn Heimito von Doderer den Weg ins Dorfgasthaus in der Prein beschreibt, dann können Sie den Weg nachgehen und entdecken vieles in Echt. Man kann wirklich auf den Spuren der Geschichte wandern. Auch heute sind Künstler:innen da und lassen sich inspirieren. Ich glaube, das Wort „Sommerfrische“ hat in den letzten Jahren eine andere Bedeutung bekommen. Man sucht wieder die Entschleunigung. Graz und Wien sind nah, man ist schnell draußen aus der Stadt und in der Natur und vielleicht auch in einer anderen Zeit. Wenn man in Payerbach aus dem Zug steigt, ist man gleich verzaubert – durch die Architektur aus der ehemaligen Blütezeit, die weiter gepflegt wurde – und schon in einer Erholungsphase.
Ein besonderer Rückzugsort, wenn die Städte heißer und hektischer werden?
Das war für mich mit ein Grund, rauszuziehen. Mein Mann und ich haben uns hier ja angesiedelt. Ich komme vom Land. Und dahin zurückzukommen und zu wissen, es ist trotzdem in Stadtnähe, ist wunderbar. Hier draußen haben wir im Sommer acht Grad weniger als in der Stadt. Man schläft anders, die Luft ist anders. Das ist nicht zu unterschätzen. Ich habe heute, vor diesem Gespräch, schon in der Erde gewühlt. Es gibt nichts Beruhigenderes, als in der Natur zu sein und sich zu erden, im wahren Sinn des Wortes. Unser Haus ist oben am Semmering und immer, wenn ich ankomme, habe ich das Gefühl, dass ich über den Dingen stehe. Man hat den Draufblick und es bleibt vieles hinter einem. Das hilft, klare Gedanken zu fassen. So klar wie die Luft in den Bergen.
Wie kam es dazu, dass Sie hergezogen sind?
Ich habe während einer Inszenierung im Hotel Panhans gewohnt und konnte zusehen, wie unser Haus gebaut wurde, nicht ahnend, dass das später unseres sein würde. Als ich einen Sommer frei hatte, habe ich mich umgeschaut, weil mich die Region immer angezogen hat. Ich habe entdeckt, dass das Haus verkauft wird, dann ging alles rasend schnell, zu einem Zeitpunkt, als ich noch nicht mal geträumt habe, dass die Intendanz in Reichenau vor der Tür steht. Das ist für mich eine Fügung und hat auch mit dieser Umgebung zu tun, solche Sachen passieren hier einfach.
Warum werden hier Dinge möglich?
Es ist auf eine Art ein magischer Ort, an dem schon so viele Vorgänger:innen gewirkt haben und wussten, warum sie gerne hier sind – das spürt man. Wir in der Jetztzeit können das nur bestätigen. Für meine Kinder waren hier die schönsten Sommerferien, auch von denen der Kolleg:innen. Es gibt eine kleine Reichenau-Clique von Kindern, die hier aufgewachsen und befreundet sind. Viele von diesen Theatersommer-Kindern gehen auch in den Beruf. Das sagt was aus.
Wie ist Ihr Leben vor Ort abseits des Theaters, gehen Sie in die Berge wandern?
Ich gebe zu, dass es für mich ideal ist, auf den Berg rauf- und runterzufahren. Oder nur hinunterzugehen: Wie schön ist es, wenn man dann am Knappenhof ankommt! Ich erinnere mich auch an mein erstes Bergerlebnis hier: Ich bin mit meiner Schwester und Freunden mit der Seilbahn auf die Rax gefahren, wir wollten zum Ottohaus wandern. Meine Schwester hatte Slipper mit Absätzen an und wir kamen nicht weiter. Einer der Herren war so galant, dass er ihr seine Turnschuhe gegeben hat, er ist in Socken weitergegangen und hatte sicher Blasen.
Sie hatten nicht damit gerechnet, wie wild die Bergnatur so nah der Stadt sein kann?
Damals wusste ich es noch nicht. Ich finde allein die Fahrt durch das Höllental schon wild, das heißt ja nicht umsonst so. Hier ist es nicht nur geschmeidig, sondern auch rau und verlangt einem was ab – das find ich toll.